Eher aufregend: Vor einigen Wochen, kurz vor unserem Aufbruch zu unserer Reise durch Mittel- und Osteuropa, lud das Radiofeuilleton von Deutschlandradio Kultur Claudius und mich zu einem Interview ein. Zehn Minuten lang durften wir über die Dinge Europas sprechen und die Fragen der Moderatorin Liane von Billerbeck beantworten.
Dabei zeigte sich: Wir haben einen selbstmörderischen Hang zum Nebensatz. Ansonsten lief aber alles ganz gut. Hier kann man das Interview nachhören, das am 16. Mai ausgestrahlt worden ist:
Hier ist zudem eine Abschrift des Gesprächs, die ich nur geringfügig sprachlich geglättet haben:
Liane von Billerbeck: „Die Dinge Europas“, das klingt fast so poetisch wie „Die Dinge des Lebens“, das war mal ein schöner Film mit Romy Schneider und Michel Piccoli. Aber Sie haben sich eben nicht für die Menschen interessiert sondern für schnöde Gegenstände. Warum?
Oskar Piegsa (OP): Also, wir haben an uns selbst die Beobachtung gemacht, dass es zwei Arten gibt, wie über Europa gesprochen wird, zumindest so im Alltagsgeschen. Einmal geht es um die Verträge – Schengen, Maastricht, Lissabon, und so weiter –, das ist das große europäische Fortschrittsnarrativ. Das ist aber ungefähr so interessant wie die Nebenflüsse des Rheins auswendig zu lernen oder die Stadtteile von Salzgitter oder so. Man weiß, dass es wichtig ist. Aber es ist nicht besonders prickelnd. Die andere Art, wie oft gesprochen wird, wenn es um Europa geht, ist das Sprechen über das Krisenpersonal – Draghi, Barroso, Merkel, vielleicht noch Putin, wenn man den jetzt mit reinnehmen will – und über das aktuelle Geschehen.
Wir haben gedacht, dass wir von beidem ein bisschen wegwollen und versuchen wollen herauszufinden, was Europa noch ist, jenseits dieser sehr politischen, an den Institutionen und an den politischen Funktionsträgern orientierten Erzählweisen. Wir kamen relativ schnell auf die Idee, dass wir gucken wollen, wo die sehr abstrakten Fragen, um die es in Europa oft geht, konkret werden, wo man sie sehen und anfassen kann. Wo es Dinge gibt, die das veranschaulichen, was Europa ausmacht.
Frage an den Fotografen, Claudius Schulze: Was sind das für Dinge, auf die Sie da gestoßen sind?
Claudius Schulze (CS): Wir waren jetzt gerade in Estland, dort habe ich zum Beispiel einen Blumenstrauß fotografiert.
Was sagt dieser Blumenstrauß über Europa?
CS: Was uns aufgefallen ist – und was auch immer wieder im Gespräch ist – ist, dass es keinen europäischen Gedenktag gibt, keinen Tag, der ein gesamteuropäischer Erinnerungstag für Europa sein könnte. Oft wird über den 8. Mai gesprochen, den Tag des Endes der nationalsozialistischen Herrschaft über Europa, auch Tag der Schuman-Erklärung. Das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft bedeutet aber für Osteuropa auch den Beginn der Unterjochung durch Sowjetrussland. Das ist dort ein sehr zwiespältiger Tag. Genau das ist es, was uns nach Estland gebracht hat. Estland ist ein sehr pro-europäischer Staat, hat aber auch eine sehr große (etwa 25% der Bevölkerung) russische Minderheit. Die gedenkt am 9. Mai dem „Tag des Sieges“ und legt an einem russischen Kriegerdenkmal rote Nelken nieder. Unser Gegenstand sind eben diese roten Nelken, die symbolhaft für die Unmöglichkeit stehen, einen gesamteuropäischen Feiertag zu finden.
OP: Beziehungsweise, auch für zwei konkurrierende Erinnerungen an die Geschichte oder zwei konkurrierende Geschichtsschreibungen. Was in Estland wirklich verblüffen war, war dass am Vorabend des 9. Mai (der 9. Mai ist eben der russische Feiertag zum Ende des Zweiten Weltkriegs), am Vorabend dieses Tages haben sich die Esten in der Innenstadt getroffen. Unter dem Unabhängigkeitsdenkmal haben dann blonde Frauen Nationalflaggen geschwenkt, während Burschenschaftler mit Säbeln über den Platz marschierten und patriotische Lieder über die Freiheit Estlands und das Estentum gesungen wurden. Es waren dort nur wenige Russen auszumachen. Am Tag danach wurden dann tausende, zehntausende (also, es war wirklich ein meterhoher Blumenhaufen, der am Ende des Tages entstanden war), zehntausende Nelken vor dem sowjetischen Ehrenmal abgelegt, woran wiederum keine Esten teilgenommen haben. Man sah da sehr schön innerhalb von 24 Stunden, wie zwei konkurrierende Erinnerungen in diesem einen Land existieren, was aber über Estland hinausreicht, was auch andere osteuropäische Länder oder Europa insgesamt betrifft, diese Schwierigkeit, da auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
Da ist ja schon das große Thema dabei und das ganze erzählen Sie eben an Dingen, wie in diesem Fall anhand eines Blumenstraußes, Sie haben sich aber auch einen ganz banalen Gegenstand ausgesucht wie die Europalette. Was bitte sagt die denn über Europa?
OP: Die Europalette war fast ein Witz, als wir vor ungefähr einem Jahr angefangen haben, Dinge zu suchen, die uns etwas über Europa erzählen, die Dinge Europas eben. Damals haben wir versuchsballonmäßig an Freunden ausprobiert, was sie von der Idee halten, und eine Reaktion, die dann kam, war: „Hä? Dinge Europas? Meint Ihr die Europalette, oder was?“ Da haben wir gedacht: Na gut, wenn das etwas ist, das man erwartet, oder das mehreren Leuten als Erstes eingefallen ist, dann machen wir eben die Europalette. Das hängt auch die Erwartungshaltung vielleicht ein bisschen runter, da ist man dann nicht bei Erinnerungskultur und Gedenktagen, sondern bei was Trivialem. Dachten wir. Als wir dann aber anfingen, mit Menschen zu sprechen, die mit Europaletten handeln, die sich entsprechend auseinandersetzen mit diesem Gegenstand, merkten wir, dass die Europalette ganz schön funktioniert als Metapher für Europa.
Warum? Was sagt die uns?
OP: Na ja, die Europalette wurde erfunden 1961, es ging also los zu einem Zeitpunkt, als auch die europäischen Institutionen noch sehr im Werden begriffen waren. Die Palette ist ja im Grunde erstmal eine Norm, also die Idee zu sagen: Es gibt hier einen Träger für Waren, der in allen europäischen Ländern gleich groß ist. Das heißt, man kann ihn tauschen. Wenn ich meine Bananenkisten auf einer Palette habe und die irgendwo hinfahre, brauche ich nicht warten, bis die Kisten abgeladen sind, sondern ich kriege eine gleichwertige, gleichförmige, freie Palette zurück. Das spart Zeit. Außerdem macht es den Transport leichter, wenn jetzt alle Waren die gleichen Maße haben, weil sie auf diesem Trägermedium sind, und so weiter.
Also: eine europäische Norm, lange bevor sich die Leute aufgeregt haben über Bananenkrümmungswinkel oder andere eurokratische Interventionen in ihren Alltag. Zum Anderen kann man sagen, das ist ein Austauschsystem lange vor Erasmus, wenn dieser Vergleich erlaubt ist, auch wenn da jetzt nicht Studenten oder junge Leute ausgetauscht worden sind, sondern Bretter. Gleichzeitig steht die Europalette aber nicht nur für die Errungenschaften oder für das, was uns vorwärts bringt in Europa, sondern auch für die Grenzen Europas.
Denn einige Jahre bevor die Europalette erfunden wurde, wurde in Amerika der Container erfunden, der nicht nach dem metrischen System vermessen ist, sondern in Feet und Inches. Es gibt also Kompatibilitätsprobleme wenn man das umrechnet. Die Europaletten passen nicht optimal in den Container. Das heißt: Während sich diese schöne Norm im Handel ausbreitete, auf den Straßen, auf den Schienen, bis in die Sowjetunion, bis in die Türkei rein reichte, also Europa und darüber hinaus auf dem Landweg eroberte, wurden die Weltmeere nach und nach vom Container beherrscht. Und da endet dann eben Europa, da muss doch wieder umgepackt werden, da hilft die Palette nicht weiter, da ist die Idee, die in Europa gut funktioniert, dem Rest der Welt eher egal.
Der Blumenstrauß, die Europalette, was verbindet die, und vor allem: Was wollen Sie damit erreichen, dass Sie diese Gegenstände der Menschheit darbieten und ihr sagen, was diese Dinge Europas sind?
CS: Das Interessante an diesem Projekt ist, dass wenn wir uns einen Gegenstand suchen, wir nicht von Vornherein eine Checkliste haben, was jetzt dieser Gegenstand erfüllen muss, damit er ein Gegenstand ist, sondern wir suchen einen Gegenstand für sich allein aus. Wir erfreuen uns sogar in gewisser Weise daran, dass die Gegenstände sehr fragmentarisch, sehr einzigartig sind, und hoffen, dass über die Sammlung der Gegenstände über die Zeit ein Konglomerat aus verschiedenen Ideen und Kategorien entsteht, das genauso vielschichtig ist und genauso schwer zu fassen ist wie Europa. Also, die Antwort auf die Frage ist letztendlich: Auf den ersten Blick verbindet die Gegenstände recht wenig – und das ist genau die Stärke der Auswahl.
Sie haben in Ihrem Blog geschrieben, Europa sei „kleinteilig, unfertig, vielstimmig und widersprüchlich“. Wenn Sie jetzt so viel unterwegs sind auf der Suche nach den Dingen Europas, fühlen Sie sich inzwischen mehr oder weniger als Europäer?
OP: Ich glaube, es ist noch rätselhafter geworden, was das überhaupt ist, Europa. Das war der Ausgangspunkt für uns: Zu sagen, wir wissen nicht, ob Europa jetzt in erster Linie eine Idee ist oder ein Stück Land oder ein Wirtschaftsverbund oder ein politisches Gefüge – oder alles auf einmal, und wenn ja, wie redet man dann darüber. Und seit wir unterwegs sind hat sich für mich persönlich das noch einmal ein bisschen verkompliziert, weil man merkt, dass es ganz unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was Europa ist, wenn man mit unterschiedlichen Leuten spricht.
CS: Die Motivation, das Projekt zu starten, war auch, dass wir beide in verschiedenen Ländern gelebt haben, dass wir einen sehr internationalen Freundeskreis haben, dass wir, ja, Fremdsprachen sprechen, und wir uns dachten: Wer ist wirklich Europäer? Es sollten ja wahrscheinlich die jungen Menschen sein, es sollten Menschen sein wie wir. Wir würden uns als Europäer verstehen, wussten aber nicht wirklich, was das bedeutet. Das war die Motivation, uns auf diese Reise aufzumachen, um genau das herauszufinden. Natürlich findet sich keine einfache Antwort, sondern je mehr man erfährt, je mehr man mit Menschen spricht, desto vielschichtiger wird das.
OP: Das ist aber vielleicht auch die Lösung, also zu sagen: Dann ist Europa vielleicht ein Prozess, an dem wir alle teilhaben. Das ist ja vielleicht genug.
Auf der Suche nach den Dingen Europas sind der Journalist Oskar Piegsa und der Fotograf Claudius Schulze, danke Ihnen für das Gespräch, und Sie, liebe Hörer, können sich beteiligen, können Dinge vorschlagen und etwas dazu schreiben. Im Netz finden Sie die Website und den Blog, die Dinge Europas heißt er.