Die Russen in Estland haben heute den „Tag des Sieges“ gefeiert, für den wir vorgestern angereist sind. Den Rotarmisten zu Ehren wurden auf einem Militärfriedhof in Tallinn vor einem Kriegerdenkmal rote Nelken abgelegt. Tausende Nelken. Zehntausende Nelken. Claudius hat Schnappschüsse von dem Blumenhaufen gemacht – das obere der beiden Fotos ist vom Mittag, aber wie weiter unten in diesem Posting zu sehen ist, wuchs der Haufen bis zum Abend noch deutlich an, trotz des strömenden Regens am Nachmittag.
Für mich war das Ausmaß der Feier überraschend. In Claus Leggewies Buch Der Kampf um die europäische Erinnerung hatte ich von dem umstrittenen Gedenken vor dem sowjetischen Kriegerdenkmal gelesen. Davon, dass das Denkmal bis vor einigen Jahren in der Altstadt stand, dass die estnische Regierung entschieden hatte, es auf diesen Friedhof und damit aus dem Blickfeld der meisten Esten zu schaffen, dass daraufhin Jugendliche randalierten, dass es zu diplomatischen Verstimmungen mit Russland kam, dass heute noch einige der vielen in Estland lebenden Russen am 9. Mai vor dem Denkmal Blumen ablegen. Nach der Leggewie-Lektüre hatte ich irrtümlicherweise angenommen, dass wohl ein paar verbitterte Witwen oder Veteranenclubs vor dem Denkmal ihre Kränze ablegen.
Tatsächlich hatte der heutige Tag Volksfestcharakter, sowohl was die Stimmung angeht, als auch, was die Besucherzahlen betrifft. Es wimmelten von Menschen. Alte und Junge kamen, viele machten Handyfotos, posierten vor den Blumen, lachten für die Kamera (wer weiß, wie viele dieser Bilder inzwischen auf vkontakte aufgetaucht sind, der russischen Facebook-Alternative). Nur die Würstchenbude fehlte.
Damit die richtige Stimmung aufkam, hatten sich Jungs und Mädels (alle nach 1989 geboren) mit alten Sowjetuniformen verkleidet. Einige Gäste schwenkten Russlandfahnen, sangen russische Soldatenlieder. Viele applaudierten den verkleideten Sowjetsoldaten. Das alles war für uns etwas befremdlich, zumal vor dem Hintergrund der Gewalt in der Ukraine. Keine Überraschung: Esten haben, soweit wir das gesehen haben, heute nicht mitgefeiert.