Vor genau zehn Jahren wurde ein Buch veröffentlicht, dessen zentrale These heute, nun ja … unwahrscheinlich klingt, um es diplomatisch zu formulieren. Der Titel des Buches: Why Europe Will Run the 21st Century.
Schon damals muss das Buch von Mark Leonard eine Provokation gewesen sein – aber eine, die wohlwollend aufgenommen wurde. In der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs hieß es etwa in einer Kritik:
Of all the recent books that celebrate the merits and the promise of the European Union, this short work […] is the most provocative and thoughtful.
Leonards Buch wurde laut seinem Autor in 19 Sprachen übersetzt, weithin besprochen und provozierte sogar eine Replik, ebenfalls in Buchlänge: Why Europe Will Not Run the 21st Century.
Kurz: Das Buch, dessen Titel heute so unwahrscheinlich klingt, wurde ernst genommen.
Wie argumentiert Mark Leonard? Wenn ich mich recht erinnere, dann schrieb er sinngemäß, dass man sich die EU als eine Art Netzwerk vorstellen müsse, das über sein Hoheitsgebiet abstrahle und Einfluss ausübe. Die Macht der EU liegt demnach in ihrer Attraktivität. Länder, die Mitglied dieses Staatenbundes werden wollen, nähern sich seinen Regeln und Vorschriften an, in der Hoffnung, eines Tages aufgenommen zu werden. Und wer braucht schon militärische Gewalt, dessen Regeln man sich freiwillig beugt?
In den Nuller Jahren gab es jene, die eine Begrenzung des Expansionskurses der EU aus Machbarkeitsgründen forderten, und erst recht gegen jene, die argumentierten, aus Rücksicht auf eine christliche (oder wie auch immer definierte) europäische Kultur müsse das Wachstum der EU spätestens an den kontinentalen Grenzen enden. Muslime in der EU? Afrikanische gar? No, no, no, wie Frau Winehouse wenig später singen sollte.
Mark Leonard wandte sich gegen beide Lager der EU-Expansions-Bremser und zwar mit einem pragmatischen, machtpolitischen Argument. Das war einer der Gründe, warum mir das Buch, seit es mir etwa zur Zeit seiner Veröffentlichung in die Hände fiel, nicht nur als mutig, sondern auch als erfrischend in Erinnerung geblieben ist.
Aber gut, das war vor der Finanzkrise, der Staatsschuldenkrise, der Abwendung der Türkei, den Diskussionen um Austritte einzelner Euro- oder EU-Mitgliedsländer, der russischen Annexion der Krim und den Sezessionskämpfen in der Ostukraine, vor dem jahrelangen Ausbleiben einer gemeinsamen Reaktion auf den Syrienkrieg, vor den Terroranschlägen in Frankreich, vor dem Rechtsruck in mehreren Mitgliedsländern, vor der Wiedererrichtung von nationalen Grenzposten, eben vor jenem Jahr, über das Anne Applebaum jetzt schreibt:
2015 may well be remembered as the year when the institutions of the European Union began to fail — when the world, and even Europeans themselves, began to view the body as weak and incompetent.
Immerhin, könnte man argumentieren, zeigen die vielen Flüchtlinge, die dieser Tage zu uns kommen, dass Europa zwar vielleicht bei den Regierungen seiner Anrainerstaaten an Attraktivität verloren hat – aber nicht unbedingt bei deren Bevölkerungen. Andererseits ist fraglich, ob nicht auch das Europabild all jener, die erfolgreich hierher geflüchtet sind, von starken Enttäuschungen erschüttert wird.
Übrigens: Wer noch ein Weihnachtsgeschenk für geschlauchte Euro-Optimisten (oder Euro-Nostalgiker) sucht, der bekommt ein gebrachtes Exemplar von Why Europe Will Run the 21st Century bereits für einen Cent.
(Was, wie man in diesem Zusammenhang vielleicht betonen muss, wohl weniger mit der Qualität des Buches zu tun hat, als mit einem Geschäftsmodell der Online-Antiquare, das hier verständlich beschrieben wird.)