Heute mal keine Reisenotizen wie in den letzten Tagen, sondern ein Lesetipp zur Geschichte der europäischen Idee:
Während nach 1918 die deutsche Rechte anti-europäisch war, brach nach dem Sieg über Frankreich 1940 ein wahrer „Europa-Rausch“ aus, wie der Freiburger Historiker Ulrich Herbert erzählt. (…) Eine der wirkmächtigsten Legenden, die schon lange über Europa erzählt wird, behauptet, die Idee der europäischen Einigung sei 1945 – vorbereitet in den Jahren davor von italienischen Antifaschisten – wie eine Erlösungsformel über die Völker des vom Krieg zerstörten Kontinents gekommen. Dass aber auch die Nazis Europäer gewesen sein sollen, das auszuplaudern ist bis heute verboten.
Das schreibt Rainer Hank in einem Essay, der in der gestrigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist. „Verboten“ ist vielleicht ein etwas zu dramatisches Wort – aber verblüffend finde ich seinen Text über die europäische Idee der Nationalsozialisten allemal. Um zu Hanks Text zu gelangen, bitte mal hier klicken.
[Nachtrag 26. Mai 2014] Danilo Scholz (Mitherausgeber der Essaysammlung „Euro Trash“) hat den Essay von Rainer Hank ebenfalls gelesen und dabei einen kühleren Kopf behalten als ich. Nach einem kritischen Kommentar von Danilo auf Facebook fühle ich mich ertappt und zur Ordnung gerufen. Deshalb dieser Nachtrag.
Dass Hank behauptet, es habe den „bösen Nationalismus“ der Nazis „gar nicht“ gegeben, ist haarsträubend. Die positive Provokation von Hanks Text liegt für mich darin, dass er „Europa“ als leeren Signifikanten entlarvt. Er zeigt: Für „Europa“ zu sein, kann vieles bedeuten, auch Dinge, die sich gegenseitig ausschließen und die ich für politisch und moralisch falsch halte. Statt bloß „für Europa“ zu sein, müssen wir deshalb darüber reden, für welches Europa wir sind.
Mag sein, dass das banal ist – und dass meine obige Empfehlung des Textes nicht nur im Zustand der geäußerten Verblüffung erfolgte, sondern auch in einem Moment kritischer Kurzsichtigkeit. Um das klar zu sagen: Ich glaube nicht, dass eine Problematisierung des Europabegriffs notwendig zu Folge hat, dass man den Begriff der Nation entproblematisiert. Schon gar nicht den nationalsozialistischen Begriff der Nation.
Dass es eine nationalsozialistische Idee von Europa (unter deutscher Führung, mit rassistischen Hierarchien, mit genozidalen Programmen) gegeben hat, ändert zudem nichts daran, dass (eine ganz andere Vorstellung von) Europa auch Antifaschisten motivierte, wie Danilo schreibt: „Camus‘ „Lettres à un ami allemand“ begründen den Eintritt in den Widerstand mit der Verteidigung des europäischen Ideals. Dem Mathematiker Jean Cavaillès ging’s um das Erbe der europäischen Aufklärung. Den Gestapo-Leuten, die ihn am 17. Februar 1944 erschossen haben, eher weniger.“